Gastkommentar und mehr….

Was Hänschen nicht gelernt hat, muss Hans teuer bezahlen .....

Prof. Dr. Gerald Hüther, Uni-Medizin Göttingen-Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Leider gelingt es offenbar immer seltener, Kinder möglichst viele Fähigkeiten zur Bewältigung von Gefahren und Schwierigkeiten der Lebenswirklichkeit herausbilden zu lassen

Was wird aus Kindern, die keine Gelegenheit bekommen, sich die für ein gesundes und glückliches Leben erforderlichen Kompetenzen anzueignen? Kann es sein, dass wir unsere Kinder, um sie vor möglichen Gefahren zu beschützen zur Lebensuntauglichkeit erziehen? Der Neurobiologe Prof. Dr. Gerald Hüther präsentiert seine Sicht der Dinge. Weil inzwischen bis zu 20 Prozent unserer Schulkinder an psychischen Problemen leiden, zu dick und zu unbeweglich, zu ängstlich und zu unbeholfen, zu unaufmerksam und zu zappelig sind, schicken wir sie zum Therapeuten oder verordnen ihnen Medikamente. Aber nach den Ursachen für die ständige Zunahme dieser Defizite fragen wir nicht. Das ist zu unbequem. Denn dazu müssten wir vorausschauend denken. Wenn ein Kind nicht genügend Gelegenheit bekommt, sich darüber zu freuen, auf wie vielfältige Weise es sich bewegen, klettern, laufen, schwimmen, tanzen, balancieren, hinfallen und wieder aufstehen kann, wird es das in ihm angelegte Potenzial unterschiedlicher Bewegungsmuster nie entfalten können. Kinder müssen unterschiedliche Herausforderungen meistern lernen und sich ein breites Spektrum an Strategien und Verhaltensweisen zur Bewältigung von Problemen, Angst, Verunsicherung und Konflikten aneignen, sonst bleiben sie später auf wenige und immer gleiche Bewältigungsstrategien beschränkt, die sie in jungen Jahren kennengelernt haben. Sie sollten zu sehr vielen und sehr unterschiedlichen Menschen eine konstruktive Beziehung aufbauen, um deren Wissen, Können und Erfahrungen teilen zu können. Wer zudem als Kind nie das Gefühl von Hunger und Durst, Hitze und Kälte körperlicher Anstrengung und Erschöpfung kennenlerne durfte, wird auch nicht die durch solche vorübergehende Zustände ausgelösten Regulationsmechanismen entwickeln können. Und wer als Kind nicht im Schlamm gespielt und Dreck gegessen hat, entwickelt ein Immunsystem, das nicht genug ,,gelernt" hat, welchen Antigenen wie zu begegnen ist. Diese Aufzählung von Defiziten, die Kinder erwerben, wenn sie so aufwachsen, wie das heutzutage der Normalfall ist, ließe sich fortsetzen. Die Quintessenz ist eigentlich banal: Fit für's Leben und damit auch gesund bis ins hohe Alter kann nur der werden, der schon als Kind genug Gelegenheit hat, sich die für eine kompetente Lebensgestaltung nötigen mentalen und körperlichen Fähigkeiten anzueignen. Die dazu erforderlichen Verknüpfungen können erst durcheigene Erfahrungen in der präfrontalen Hirnrinde gebildet und stabilisiert werden. Bei Menschen, die häufiger die Erfahrung machen, wie vorteilhaft es ist, vorausschauend zu denken und zu handeln, werden auch die dafür zuständigen neuronalen Verknüpfungen im Frontalhirn intensiver herausgeformt. Sie können die Folgen ihres eigenen Handelns besser abschätzen und überlegen sich auch genauer, ob etwas, was sie tun wollen und worauf sie Lust haben, auch ihrer Gesundheit gut tut. All jene, die das nicht so gut können, schaden sich mit ihrem Tun, ihrem Lebensstil oder ihren Gewohnheiten selbst - und werden deshalb auch öfter krank. Mehr Fähigkeit zu vor-ausschauendem Denken und Handeln in der Bevölkerung könnte also beträchtliche Kosten im Gesundheitssystem einsparen. Doch leider gelingt genau dies offenbar nur begrenzt. Das Leben ist gefährlich, und das Bemühen, unsere Kinder vor Gefahren zu schützen, ist verständlich. Doch braucht es wirklich Experten, die auf alle möglichen Gefährdungen hinweisen? Fuchsbandwürmer, Zecken in den Wäldern, Sexualstraftäter in der Nachbarschaft bis zu aggressiven Keimen im Hundekot: perfekter Stoff für mediale Schreckensmeldungen - die Eltern dazu bringen, ihre Kinder lieber im Kinderzimmer spielen zu lassen, möglichst gefahrlos, möglichst gut überwacht und ständig kontrolliert. Wo aber sollen diese Kinder lernen, Gefahren zu begegnen und Schwierigkeiten zu meistern, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen und vorausschauend zu denken?

Quelle: ARZT & WIRTSCHAFT PÄDIATRIE, AUSGABE 3, MAI/2014

Viele Eltern möchten ihren Kindern möglichst viel beibringen, um sie bestmöglich auf das Leben vorzubereiten. Hirnforscher Gerald Hüther warnt jedoch vor negativen Folgen: Starkes Eingreifen der Eltern könnte die natürliche Entdeckerfreude der Kinder zerstören.


Noch bevor ein Kind auf die Welt kommt, haben seine Eltern schon eine Vorstellung davon, was sie in der Erziehung besser machen wollen. Besser als die eigenen Eltern, besser als die Freunde, besser als die Nachbarn.
Lange bevor das Kind dann in die Vorschule kommt, haben seine Eltern sich bereits ausgemalt, was einmal aus ihm werden könnte. Möglicherweise haben sie sogar einige Anstrengungen in Kauf genommen, um ihrem Kind für die Zukunft den Weg zu ebnen: mit frühem Sprachunterricht, intelligenzförderndem Spielzeug und regelmäßigen Musikstunden.
Manche Kinder können schon das ABC auswendig aufsagen oder kleine Rechenaufgaben lösen, bevor sie überhaupt eingeschult werden. Die Eltern klopfen sich dann stolz auf die Schulter und glauben, dass sie alles richtig gemacht haben.

Eltern rauben Kindern wichtigste Erfahrung der Kindheit

Doch sie haben eine Sache falsch verstanden: Es ist nicht die Aufgabe der Eltern, den Geist eines Kindes zu formen. Ihre Aufgabe ist es, dem Kind die Möglichkeit zu bieten, seinen Geist eigenständig zu entwickeln; sich seine Welt selbst zu erschließen.
Eltern, die ihren Kindern genau sagen, was sie tun sollen, wie sie spielen sollen und was sie wissen sollen, rauben ihnen den wichtigsten Aspekt ihrer Kindheit:
Sie machen das Kind von einem Subjekt zu einem Objekt ihrer eigenen Bemühungen.
"Solange Kinder sich als Subjekt die Welt erschließen, ist alles gut", sagte Gerald Hüther im Gespräch mit FOCUS Online. Der Hirnforscher ist Autor des kürzlich erschienenen Buches "Rettet das Spiel!" (Hanser Verlag), in dem er gemeinsam mit Christoph Quarch dafür plädiert, Kindern wieder mehr Zeit für das freie Spiel einzuräumen.
"Kinder haben eine angeborene Entdeckerfreude - bis irgendwann jemand kommt und ihnen sagt, was sie jetzt machen sollen", erklärt Hüther.

Wie wir die Entwicklung unserer Kinder einschränken

Indem wir Kinder belehren und bewerten, ein bestimmtes Verhalten von ihnen erwarten und sie so zu formen versuchen, dass sie uns gefallen, engen wir sie in ihrer Vorstellungskraft und in ihrer Entwicklung ein:
Anstatt ihnen den weiten und offenen Blick auf die Welt zu gewähren, der ihnen angeboren ist, schränken wir ihre Sichtweise bereits im Kleinkindalter ein und nehmen ihnen damit die Möglichkeit, viele Aspekte unserer Welt und auch ihrer eigenen Persönlichkeit überhaupt erst kennenzulernen.
Es gibt ein wissenschaftliches Experiment, das dies sehr eindrucksvoll belegt.

Ein Experiment, das alle Eltern kennen sollten

Wissenschaftler mehrerer renommierter Universitäten haben sich im Jahr 2011 zusammengetan, um zu untersuchen, wie es sich auf das Spielverhalten von Kindern auswirkt, wenn Erwachsene eingreifen.
Zwei Gruppen von Kindern im Vorschulalter sollten sich mit einem Spielzeug beschäftigen. Es bestand aus mehreren Teilen und hatte verschiedene Funktionen. Ein Element konnte hupen, eins konnte aufleuchten, eins machte Musik und eins hatte einen versteckten Spiegel.
In der einen Gruppe griff ein Erwachsener in das Spiel ein und zeigte den Kindern jeweils, wie die Hupe funktionierte. Die andere Gruppe der Kinder wurde mit dem Spielzeug allein gelassen.
Anschließend wurden beide Gruppen verglichen:
In der ersten Gruppe spielten die Kinder ausschließlich mit der Hupe und wiederholten immer wieder, was der Erwachsene ihnen gezeigt hatte.
In der zweiten Gruppe entdeckten die Kinder alle Funktionen des Spielzeugs von allein und nutzten jede einzelne.

Es liegt also eigentlich auf der Hand, was Eltern tun sollten: Anstatt ihren Kindern zu zeigen, wie die Welt funktioniert, sollten sie ihnen die Möglichkeit geben, dies selbst herauszufinden  und sie dabei auf liebevolle Weise begleiten.

Die Angst, die Eltern antreibt

Eltern, die stark in das Leben ihrer Kinder eingreifen, tun dies selbstverständlich nicht aus böser Absicht. Sie wollen das Beste für ihr Kind und handeln aus einer Angst heraus, die sich in den letzten Jahrzehnten extrem verstärkt hat: der Angst, dass ihr Kind den Anschluss an die globalisierte Bildungsgesellschaft verlieren könnte.
Es ist diese Angst, aus der heraus Eltern heute zu Frühförderung und anderen Maßnahmen greifen und damit immer mehr Einfluss auf das Leben ihrer Kinder nehmen. Doch indem sie das tun, geraten die verschiedenen Säulen der kindlichen Entwicklung ins Wanken.

Die drei Säulen der Kindlichen Entwicklung

Diese Säulen sind laut Hüther das Aneignen von Kreativität, das Aneignen von Wissen und das Aneignen von Können.
Alle drei Bereiche kann sich jedes Kind selbst erschließen. Doch die wenigsten Kinder dürfen das.
Stattdessen sagen Eltern und Erzieher ihnen ganz genau, was sie spielen und lernen sollen und wie sie sich verhalten sollen. Und das passiert inzwischen so automatisch, dass es uns nicht einmal mehr auffällt.

1. Kreativität und Fantasie

Kinder lernen, indem sie spielen. "Aus der Gehirnforschung weiß man, dass völlig absichtsloses Spielen für die besten Vernetzungen im Gehirn sorgt", sagt Hüther.
Im Spiel eignen Kinder sich außerdem die wichtigste Geisteskraft überhaupt an: die Kreativität. Wenn Kinder in unterschiedliche Rollen schlüpfen und neue Denkweisen kennenlernen, erschließen sie sich die verschiedensten Denkweisen und Strategien.
Dafür brauchen Kinder keinen Erwachsenen, der ihnen sagt, ob ihre Fantasievorstellung logisch ist oder sie eine Rolle "richtig" spielen. Je weniger Vorgaben sie bekommen, desto mehr müssen sie ihre Vorstellungskraft benutzen.
Kinder, die die Chance bekommen haben, frei zu spielen, können später leichter Probleme lösen.
Das freie Spiel ist jedoch nicht nur durch das Eingreifen Erwachsener gefährdet. Kinder haben heute oft so straffe Zeitpläne, dass ihnen kaum Zeit zum Spielen bleibt.

2. Wissen aneignen

"Man darf einem Kind nichts erklären, wonach es nicht gefragt hat", sagt Gerald Hüther. "In dem Moment, wo ich einem Kind etwas erkläre, beraube ich es der Chance, es selbst herauszufinden."
Damit meint der Forscher, dass Eltern nicht die Antworten auf Fragen vorwegnehmen sollten, die ihre Kinder noch gar nicht gestellt haben.
Es ist wie in dem Experiment: Wenn wir einem Kind erklären, wie ein Gegenstand funktioniert, wird es vielleicht nie herausfinden, welche anderen, verborgenen Eigenschaften er hat.
"Der Dialog mit einem Kind sollte so gestaltet werden, dass es nie aufhört, Fragen zu stellen. Denn sobald es fertige Antworten bekommt, hört es mit dem Fragen auf", sagte Hüther.
In den meisten Schulen und Bildungseinrichtungen ist jedoch genau das der Fall.

3. Handlungskompetenzen erwerben

Auch in diesem Entwicklungsfeld lernen Kinder am schnellsten, wenn ihre Eltern ihnen die Chance geben, zu scheitern - und aus den eigenen Fehlern zu lernen.
"Das Kind darf nicht das Objekt elterlicher Bemühungen werden, sondern es sollte unter liebevoller Begleitung losgelassen werden. Damit es sich die Welt selbst erschließen und seine Handlungskompetenzen selbst erwerben kann", sagte Hüther.
"Es kann kein Kind lernen, wie man aufsteht, wenn es nie hinfällt. Es kann kein Kind laufen lernen, wenn ihm die Steine weggeräumt werden."
Kinder, die nicht gelernt haben, wie man mit Frustration umgeht, oder wie man einen Konflikt selbstständig löst, haben es als Erwachsene oft schwer.

Unsere Aufgabe als Eltern

Als Eltern stehen wir vor der großen Herausforderung, dem Drang und der Versuchung zu widerstehen, unseren Kindern den Weg zu ebnen. Unsere Aufgabe ist es, unseren Kindern in einer Zeit, die von Zeitdruck und Reizüberflutung geprägt ist, Freiräume zu schaffen, in denen sie sich in ihrer eigenen Geschwindigkeit und entsprechend ihrer Interessen und Talente entfalten können.
"Wir müssen den Kindern ihre Subjekthaftigkeit lassen", sagte Hüther. "Nur dann können sie in allen Entwicklungsfeldern optimal wachsen. Subjekthaftigkeit ist nur ein anderes Wort für Würde. Und die verletzt man, wenn man einen anderen Menschen zum Objekt seiner eigenen Vorstellungen und Absichten, seiner Erwartungen und Bewertungen, seiner Maßnahmen oder gar Anordnungen macht."

Lesen Sie mehr von Gerald Hüther:

•Für den Hirnforscher Gerald Hüther steht fest: Um glücklich zu sein, muss ein Kind spüren, dass es um seiner selbst willen geliebt wird. Ist das nicht der Fall, verändert sich das ganze Wesen des Kindes. Er definiert die Formel für ein glückliches Aufwachsen.
•Schon im Mutterleib wird das Kind entscheidend geprägt und auf sein Leben in der „Außenwelt“ vorbereitet. Die Zusammenhänge sind jedoch oft nicht so, wie sich das viele Eltern vorstellen. Die Anpassungsfähigkeit des menschlichen Gehirns ist enorm, doch laut Experten wird im Mutterleid das Fundament gelegt.
•Gerald Hüther ist pensionierter Hirnforscher und Buchautor.IIm Gespräch mit FOCUS Online erklärt er, welche zwei Werte allen Menschen gemein sind - und wie Konzerne sie ausnutzen könnten, um uns zu "verführen" - uns also unbewusst fernzusteuern.
•Gerald Hüther ist Biologe, Hirnforscher und zugegebenermaßen ein groß(artig)er Idealist. Sein Lebenswerk hat er dem menschlichen Hirn gewidmet. Eines der wichtigsten Ergebnisse seiner Forschung: Nur, wer Herr über sich selbst wird, gibt auch seinem Gehirn die Chance, all seine Möglichkeiten zu entfalten. 

FOCUS-Online-Redakteurin Gina Louisa Metzler
Mittwoch, 25.09.2019, 11:51
https://www.focus.de/familie/eltern/familie-heute/erziehung-hirnforscher-wie-eltern-kindern-den-wichtigsten-aspekt-der-kindheit-stehlen_id_10930803.html

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